4. Adventwoche
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23. Dezember

Der einarmige Engel

Engel

Es war der 15. Jänner 1945, und wieder einmal Fliegeralarm. Wir packten unsere wichtigsten Sachen und das Radio, und gingen, wie alle Bewohner unseres Hauses, in den Keller. Eine Angestellte meiner Oma, die Toni, hatte noch etwas vergessen und ging zur Wohnung zurück. Kurz danach ein lautes Krachen: Der Strom fiel aus, das Radio verstummte und nur eine Kerze spendete etwas Licht.
Als dann Toni erschien, sagte sie: „Alles ist hin“ – aber sie hat überlebt. Ich begann zu beten, und alle beteten mit. Ein Kommunist, der auch ein hochdekorierter Nationalsozialist war, und neben mir saß, betete mit – bwohl er sonst nur verächtlich über die Kerzerlschlucker lästerte. Als der Fluglärm verstummte, verließen wir nach einer Weile den Keller und gingen in unsere Wohnung im dritten Stock – aber da fehlte die Küche und mein Kinderzimmer. Das Haus war von einer Bombe gestreift worden. Meine Spielsachen, mein Bett, der Teddy und mein Schutzengerl, das mir meine liebe Oma geschenkt hatte, lagen in Schutt und Asche. Den Teddy grub meine innig geliebte Mutter mit bloßen Händen aus dem Schutt aus.
Unsere Familie hat – ein Wunder in der damaligen Zeit – eine kleine Ersatzwohnung bekommen. Das darauf folgende Weihnachtsfest haben wir dann glücklicherweise im eigenen Heim feiern können. Unter dem Christbaum lag, zu meiner großen Verwunderung und Freude mein Schutzengerl, eine Hummelfigur. Das Engerl hatte zwar einen Arm eingebüßt, aber es war mein Schutzengerl, das meine Mutter ebenfalls ausgegraben und als Weihnachtsüberraschung für mich aufgehoben hatte.
Dieser einarmige Engel hängt noch immer über meinem Bett. Er wacht über mich und erinnert mich jeden Tag daran, dass wir täglich dankbar sein können, dass wir noch leben.

Franz Filip

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